Hartwig von Schubert, Hamburg

Psychotherapie in der Beratungsstelle

Behandlungen von Störungen mit Krankheitswert im Kontext institutioneller Beratung

Am 26. Januar 1999 faßte die Konferenz der Hauptstellenleiter für Familien- und Lebensberatung auf ihrer Jahrestagung in Berlin - bei einer Gegenstimme - den folgenden Beschluß:

Die evangelischen Hauptstellenleiter/innen und Landeskirchlichen Beauftragten für Familien- und Lebensberatung auf Bundesebene begrüßen es, daß es im Einvernehmen mit den Verbänden im DAK gelungen ist, im inzwischen rechtskräftig gewordenen Psychotherapeutengesetz (PsychThG) mit § 1 Abs. 3, Satz 3 (Seite 1311, BGBl 1998, I. Nr. 36, 23. 6. 1998) eine Bestimmung aufzunehmen, die sicherstellt, daß das kirchliche Beratungsangebot nicht generell unter den Regelungsbereich des PsychThG fällt. Die Arbeit psychologischer Beratungsstellen umfaßt zu einem großen Teil pädagogische, psychologische und andere Tätigkeiten, "die die Aufarbeitung und Überwindung sozialer Konflikte oder sonstige Zwecke außerhalb der Heilkunde zum Gegenstand haben". Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß damit nicht das ganze Spektrum kirchlicher Beratungsarbeit beschrieben ist. Zum Auftrag kirchlicher Beratungsarbeit gehört in vielen Beratungsstellen auch Psychotherapie im Sinne des § 1 Abs. 3, Satz 1 PsychThG. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in Beratungsstellen Psychotherapie ausüben, gewährleisten durch ihre Approbation, daß dies rechtmäßig geschieht. Deshalb fordern die Bundeshauptstellenleiter den Vorstand der EKFuL auf,

a) die im DAK zusammengeschlossenen Verbände sowie
den BDP und andere psychotherapeutische Fachverbände für die Entscheidung zu gewinnen, künftig nicht mehr mit dem irreführenden und fatalen Begriff der "nicht-heilkundlichen Psychotherapie" zu operieren, der suggeriert, es gäbe eine Psychotherapie unterhalb der Schwelle der durch das PsychThG gesetzlich geschützten.

b) Die Träger von Psychologischen Beratungsstellen 
sollten erwägen, Psychotherapie im Kontext institutioneller Beratung explizit als "Sozialleistung eigener Art" in das Konzept / den Leistungskatalog / die Zweckbeschreibung der Beratungsstellen aufzunehmen.

c) Die EKFuL soll mit Nachdruck darauf bestehen, daß
die EKD und das DW-EKD sowie die Landeskirchen, die gliedkirchlichen Diakonischen Werke und die Hauptstellen sich weiterhin beim Bundesministerium für Gesundheit sowie bei den Gesundheitsministerien der Bundesländer für eine Aufnahme der psychologischen Beratungsstellen in evangelischer Trägerschaft als Teil-Stationen der Ausbildung in die Ausbildungs- und Prüfungsordnung einsetzen. Die sich daraus ergebenden regionalen Verpflichtungen übernehmen die Landeskirchlichen Beauftragten und Hauptstellen.

d) Sollten die Ordnungen einen entsprechenden Passus
nicht ausdrücklich enthalten, so ist die Leitung einer Beratungsstelle gehalten, nach Möglichkeit dazu beizutragen, daß dennoch alle im Rahmen der Ausbildung in einer Beratungsstelle geleisteten Stunden an Psychotherapie von der Prüfungskommission anerkannt werden.

e) Entsprechend Ziffer b) sind den Psychotherapeut/innen
in den Beratungsstellen Bescheinigungen über die geleistete Arbeit im Bereich der Psychotherapie im Rahmen der Beratungsstelle auszustellen. In vielen Landeskirchen wird bereits in diesem Sinne verfahren.

Den Anlaß für diese Initiative bot der bisher vergebliche Versuch, über die zuständigen Stellen im Diakonischen Werk der EKD und im Kirchenamt der EKD, bzw. ihrer Bonner Vertretung einen entsprechenden Einfluß auf das Bundesgesundheitsministerium zu nehmen. Was hatte im Wege gestanden? Über möglicherweise fehlende Absprachen, unterschiedliche Interessenlagen oder vielleicht auch institutionelle Ignoranz kann man gerne spekulieren. Vielleicht wurden die Verantwortlichen auf der bundespolitischen Ebene aber auch durch die folgenden gravierenden Irrtümer dazu verleitet, anzunehmen, daß Psychotherapie im Sinne des neuen Gesetzes mit der Arbeit in kirchlichen Ehe- und Partnerschafts, - Erziehungs- und Lebensberatungsstellen schlechterdings nichts zu tun habe.

Der erste Irrtum besteht darin, zu meinen, der eingangs zitierte § 1 Abs. 3, Satz 3 PsychThG beschreibe umfassend und vollständig die Arbeit der kommunalen und freigemeinnützigen Ehe- und Partnerschafts, - Erziehungs- und Lebensberatungsstellen. Dies aber ist keineswegs der Fall, ein PsychThG hat auch gar nicht die Aufgabe, dieses Beratungsangebot zu definieren. Vielmehr geht es dort darum, im Rahmen des weiten Zuständigkeitsbereiches von Psychologie die Behandlung von Störungen mit Krankheitswert - eben die Psychotherapie - abzugrenzen von der Begleitung in der Aufarbeitung und Überwindung sozialer Konflikte oder sonstige Zwecke außerhalb der Heilkunde. Augenscheinlich weiß der Gesetzgeber, daß psychologische und andere Kompetenzen nicht nur bei Krankenbehandlungen, sondern auch noch bei anderen Anlässen nützlich sein können, zunächst natürlich in Lehre und Forschung und in Anwendungsbereichen der Psychologie in der Wirtschaft, Schule etc., insbesondere natürlich aber auch in dem der Krankenbehandlung verwandten Bereich der Sozialarbeit, in dem es ähnlich wie in der Therapie um die Bewältigung von Leiden geht. Neben Leiden im gesundheitlichen Sinne gibt es eben auch Leiden im sozialen Sinne. Ist aber nicht beides oft eng miteinander verwoben?

Der zweite Irrtum besteht darin, anzunehmen, daß Psychotherapie durch die Erstattungspflicht der Behandlungskosten im Rahmen des Sozialgesetzbuches, Band V (SGB V) definiert sei. Es wird sogar der Eindruck erweckt, als sei eine kassenärztliche Zulassung die Voraussetzung für eine Approbation. In Wahrheit ist es umgekehrt. So wird z.B. von seiten der BKE in den Informationen für Erziehungsberatungsstellen (3/98) ausgeführt: "Heilkunde wird im Rahmen einer Beratungsstelle nur ausgeübt, wenn seitens des Trägers der Einrichtung Aufgaben des SGB V zugewiesen worden sind." Diese Behauptung widerspricht dem Wortlaut des PsychThG. Über Psychotherapie im Sinne einer heilkundlichen Tätigkeit heißt es im § 1 Abs. 3 PsychThG: "Ausübung von Psychotherapie im Sinne des Gesetzes ist jede mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist." Die sozialrechtliche Verankerung von Psychotherapie im SGB V ergibt sich erst als Folge dieser berufsrechtlichen Definition und ist noch nicht in ihr enthalten. Ausübung von Psychotherapie im Sinne des Gesetzes ist also nicht erst dann gegeben, wenn eine Kostenerstattung nach SGB V folgt. Eine Störung mit Krankheitswert löst die Erstattungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung aus, wenn sie im Rahmen des kassenärztlichen Versorgungsauftrages von einem Angehörigen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) diagnostiziert und behandelt wird. Voraussetzung hierfür ist die Zulassung oder Ermächtigung des Behandlers durch die KV. Der rechtliche Unterschied zwischen Psychotherapie im Rahmen des SGB V und Psychotherapie außerhalb des SGB V liegt also allein in ihrer Einbeziehung resp. Nicht-Einbeziehung in den kassenärztlichen Versorgungsauftrag. Approbierte Psychotherapeut/innen können Psychotherapie ausüben, ohne dies im Rahmen des kassenärztlichen Versorgungsauftrages zu tun und ohne dafür die Erstattungen der Krankenversicherungen in Anspruch nehmen zu müssen. So steht es seit jeher jedem Arzt, Zahnarzt frei, die Mitgliedschaft in der KV zu kündigen, die Zulassung zurückzugeben und in freier Praxis tätig zu sein. Auch können Psychotherapeut/innen prinzipiell auf ein Entgelt verzichten, Patienten können - z.B. als Privatpatient/innen selbst zahlen oder eine Kostenerstattung im Rahmen ihres Rechtsanspruches auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe oder der Wiedereingliederungshilfe bei den entsprechenden Stellen geltend machen. Zwischen den Privat- und Betriebskrankenkassen, den Jugend- und Rehabilitationsämtern und den freien Praxen und Beratungsstellen können entsprechende Kooperationsverträge geschlossen werden. Über die angemessene Form der Dokumentation solcher Fälle für den Zweck der Vorlage bei einem Approbationsantrag sollten künftig zwischen der Verbänden und den für die Erteilung der Approbation zuständigen Stellen Regelungen getroffen werden.

Es ist verständlich, daß sich die Vertreter der Beratungsstellen zunächst auf den Hilfsbegriff der "nicht-heilkundlichen Psychotherapie" verständigt haben, um dem begrifflichen Streit rund um das PsychThG zu entgehen. Dieser Begriff kann sich auf den Kommentar von Wiesner zum Kinder- und Jugendhilfegesetz stützen, der allerdings noch gar nicht das PsychThG, sondern nur das Heilpraktikergesetz (HPG) vor Augen hatte. Die Durchführungserlasse der Länder zum HPG enthielten nämlich den Hinweis, daß die psychotherapeutischen (!) Tätigkeiten in Beratungsstellen typischerweise keine Ausübung der Heilkunde im damaligen Sinne darstellen. Damals gab es eben noch gar kein PsychThG, Psychotherapie war deshalb auch noch kein Bestandteil der Heilkunde. So wie es damals also in Deutschland nur "nicht-heilkundliche" Psychotherapie gab, so gibt es heute nur und ausschließlich "heilkundliche" Psychotherapie. Die Unterscheidung hatte also niemals den Sinn, Sphären innerhalb der Psychotherapie zu differenzieren! Die sich inzwischen in Stellungnahmen der EKFuL, der BKE und des EZI findende Unterscheidung zwischen "heilkundlicher" und "nicht-heilkundlicher" Psychotherapie sowie die Verwendung des Begriffs der "nicht heilkundlichen Psychotherapie" als Beschreibung für den Charakter der Tätigkeit von Psychotherapeut/innen in Beratungsstellen hätte im Fall ihrer Beibehaltung fatale Folgen für die Zukunft des gesamten Arbeitsfeldes von Psychotherapie und psychotherapeutischer Beratung im Kontext der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe sowie der Wiedereingliederungshilfe. Sie entzöge nämlich den dort tätigen Psychotherapeut/innen den berufsrechtlichen Schutz des PsychThG und ließe es unsinnig erscheinen, daß sich Mitarbeiter/innen von Beratungsstellen um die Approbation bemühen. Es ist überdies fraglich, ob die anhaltende Verwendung des Terminus "nicht-heilkundlicher Psychotherapeut" nicht ebenso rechtswidrig wäre, wie dies der Terminus "nicht-heilkundlicher Arzt" wäre.

Wie steht es nun mit den kirchlichen Beratungsstellen, findet dort Psychotherapie statt? Noch grundsätzlicher gefragt: Soll dort Psychotherapie stattfinden? Darf dort Psychotherapie stattfinden? In einigen Landeskirchen - so z. B. in der Nordelbischen Kirche -weisen die entsprechenden Richtlinien den Beratungsstellen diese Aufgabe ausdrücklich zu. In anderen Landeskirchen und bei einigen diakonischen Trägern weigern sich jedoch die Anstellungsträger, den bei ihnen tätigen Psychotherapeut/innen Bescheinigungen über die bei ihnen geleistete Arbeit im Bereich der Psychotherapie im Rahmen der Beratungsstelle auszustellen. Sofern die Träger im Konzept der Beratungsstelle und in den Stellenbeschreibungen der Psychotherapeut/innen einen Auftrag zur Ausübung von Psychotherapie als Teil des Angebotes der Beratungsstelle gar nicht vorsehen, erscheint dies folgerichtig und berechtigt. Ist aber Psychotherapie im Konzept / im Leistungskatalog / in der Zweckbeschreibung der Beratungsstellen explizit oder implizit - etwa durch die Forderung abgeschlossener psychotherapeutischer Ausbildung als Einstellungsvoraussetzung oder durch die Empfehlung, eine Anerkennung nach dem Heilpraktikergesetz anzustreben - enthalten, so sind den dort tätigen Psychotherapeut/innen Bescheinigungen über die dort geleistete Arbeit im Bereich der Psychotherapie im Rahmen der Beratungsstelle auszustellen. Mitarbeiter/innen könnten dies gegebenenfalls sogar einklagen! Entsprechendes gilt für die Aufnahme in die Ausbildungs- und Prüfungsbestimmungen. Psychologische Beratungsstellen gehören zum einschlägigen Arbeitsfeld von Psychotherapeut/innen. Demzufolge eignen sie sich grundsätzlich auch als Teilstationen der Ausbildung.

Welcher kirchliche Träger ist nun besser beraten, derjenige, der seiner Beratungsstelle Psychotherapie zum Auftrag macht, oder derjenige, der dieses Angebot aus dem Konzept streicht? Hierzu muß man noch einmal auf das Interesse zurückkommen, das überhaupt hinter dem Erlaß eines PsychThG steht. Seit Beginn dieses Jahres genießen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Deutschland erstmalig berufsrechtlichen Schutz. Die Einführung einer Approbation für Psychotherapie in Entsprechung zur Approbation im Bereich der Medizin gewährleistet nicht nur eine Erwartungssicherheit nach innen und außen im Blick auf die Standards der Professionalität; sie liefert auch die Voraussetzung für eine ordentliche sozialrechtliche Integration von Psychotherapie in die verschiedenen Systeme der gesellschaftlichen Gesundheits- und Sozialversorgung sowie der kirchlichen und sonstigen freigemeinnützigen Hilfsangebote. Die eigentliche Grundvoraussetzung für diese berufs- und sozialrechtliche Anerkennung von Psychotherapie wurde natürlich nicht im Rahmen rechtlicher Normsetzung bereitgestellt. Die Voraussetzung der rechtlichen Anerkennung war vielmehr der Ausweis der Wissenschaftlichkeit von Psychotherapie. Würden wir Psychotherapie so betrachten wie Graphologie oder Astrologie, würde man auf eine Approbation für Psychotherapeuten lange warten können. Insofern gilt: Wenn denn Psychotherapie irgendwo geschieht, dann sollte dies auch seriös geschehen!

Die Kirche kann in der Erfüllung ihres Kultur-, Bildungs- und Seelsorgeauftrages mit der Aufnahme ordentlicher psychotherapeutischer Kompetenz nur gewinnen. Sie findet im Kontext der Jugendhilfe dafür auch gesetzlich entsprechend beauftragte Partner. Aber auch ihre ganz eigenständigen Seelsorgeinstitutionen sollten auf das Element der Psychotherapie nicht verzichten. Und im Blick darauf eben gilt: Als Gesamtheit hat "die Psychotherapie" durch die Gesetzgebung gewonnen. Gleichwohl wird jetzt auf dem Felde des Ringens um wissenschaftliche Wahrheit und gesellschaftliche Bedeutung auf neuer Ebene mit neuen Waffen gestritten werden. Viele einschlägige Institutionen sind darauf vermutlich noch wenig vorbereitet. Wie wäre es also z.B., wenn wir den Formenkreis der "psychosozialen" Berufe noch entschiedener als bisher als "Kunst" auswiesen? Wer wäre dafür besser gerüstet als die Kirchen? Interessant wäre dafür z.B. ein Dialog etwa mit dem Konzept der "sozialen Skulptur" eines Joseph Beuys. Ebenso verheißungsvoll wäre eine Auseinandersetzung mit der Gegenüberstellung von Kunst und Mythos, die Georg Picht vorgelegt hat. Lohnend ist immer auch ein Rückgriff auf die Klassik: Friedrich Schiller unterscheidet in seiner Schrift "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" zwischen den "Barbaren" und den "Wilden". Mit den "Wilden" hat er durchaus Sympathie, obwohl bei ihnen die Gefühle über die Gesetze herrschen. Die "Barbaren" jedoch sind wirklich schrecklich; bei ihnen zerstören die Gesetze die Gefühle. Gibt es also einen Weg, weder "wild" zu bleiben noch "barbarisch" zu werden? Am Ende seiner Schrift erwartet er das Aufscheinen einer schönen Vereinigung von Gesetz und Gefühl dem Bedürfnis nach zwar universal "in jeder feinsinnigen Seele", in der Wirklichkeit jedoch allenfalls in kleinen "Zirkeln". Sollen wir also unser Träume und Ideale als ewige Dissidenten mit uns herumtragen? Manche "Seele" verdankt ihr Überleben und Gedeihen den schwachen Kräften der Psychotherapie , der therapeutischen Seelsorge oder auch einer engagierten und ebenso phantasievollen wie durchsetzungsfähigen Pädagogik. Warum sollten also nicht auch die Kirchen Schulen betreiben, Kindertagesstätten und Beratungsstellen? Warum sollten sie nicht auch neben dem Gesundheitssystem Psychotherapie in ihrem Kontext anbieten? Wir sprechen damit von nichts geringerem als den vitalen Regenerationsquellen moderner Gesellschaften, in denen nur Institutionen die seelischen Wunden heilen können, die von Institutionen geschlagen werden. Es ist deshalb zu hoffen, daß möglichst viele Institutionen die neuen Chancen für die Weiterentwicklung und Humanisierung von Psychotherapie auf der Grundlage einer neuen Gesetzgebung konstruktiv nutzen und daß die durch das Gesetz entstandenen Schäden bald kompensiert werden können. Auch für Psychotherapie gilt: Es kommt darauf an, was man daraus macht! Schade wäre es, würden bewährte therapeutische Traditionen vor dem neuen Gesetz einfach ausweichen, um sich auf ein vermeintlich sicheres Plätzchen zwischen der Scylla der "offiziellen" Psychotherapie und der Charybdis der esoterischen Therapieszene zu flüchten. Als einen solchen Versuch werte ich den berufspolitischen Trick, eine "nicht-heilkundliche Psychotherapie" auszurufen. Die klassischen Bereiche der Psychotherapie und der Pädagogik sollte man so ängstlich nicht preisgeben. Wenn also Schule, dann richtige Schule, wenn Kindergarten, dann einen richtigen Kindergarten! Wenn eine kirchliche Bauabteilung, dann sollen dort auch richtige Architekten und Ingenieure arbeiten! Da die rechtlichen Grundlagen für die Etablierung speziell von Psychotherapie in Beratungsstellen etwa im Kontext der Jugendhilfe zugestandenermaßen noch schwach sind, ertönt folgerichtig das Argument, man solle dies dann auch über die Kassen refinanzieren lassen. Schön, wenn dies gelänge! Man wird allerdings unschwer davon ausgehen können, daß kirchliche Beratungsstellen mit der ganzen bisherigen Breite ihres Angebotes keine Chancen haben, als "Institutionen des Gesundheitswesens" in den kassenärztlichen Versorgungsauftrag aufgenommen zu werden. Sie könnten sich natürlich entsprechend anpassen, wären dann aber keine Beratungsstellen mehr, sondern "Psychotherapeutische Tageskliniken". Ganz so schwach aber ist die rechtliche Basis der Psychotherapie in der Jugendhilfe gar nicht, man kann immerhin darauf verweisen, daß z.B. der § 28 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes auch explizit "therapeutische" Leistungen in seinen Bereich aufnimmt, mit Hilfe derer die "zugrunde liegenden Faktoren" erfaßt und behandelt werden sollen. Möglicherweise wäre jetzt nach Erlaß des PsychThG noch einmal nachdrücklich zu spezifizieren, daß in diesem Paragraphen auch an Psychotherapie zu denken ist. Vielleicht wäre es sogar ratsam, die Idee eines eigenen "Beratungsgesetz" verstärkt weiter zu verfolgen, das dann einen spezifizierten Modus von Psychotherapie beschreiben müßte.

Warum "müßte"? Warum eigentlich überhaupt das so beharrliche Interesse an Psychotherapie - nicht außerhalb der Heilkunde - wohl aber außerhalb des Gesundheitssystems? Welches Interesse sollte denn überhaupt daran bestehen, zumal von seiten der Kirche oder auch der Jugendhilfe? Bleibt nicht bei all dem bisher Ausgeführten der schale Geschmack, als ginge es letztlich nur darum, einen historisch eher zufällig entstandenen Besitzstand an Arbeitsplätzen für Psychotherapeuten in Kirche und Jugendhilfe zu sichern? Sollten diese sich nicht lieber keine weiteren Illusionen machen und erkennen, daß man zwar eine gute Zeit zusammen gehabt habe, nun aber sei für alle Psychotherapeut/innen der Tag da, sich wieder ganz in das Gesundheitssystem hinüber zu begeben, wo man doch auch eigentlich hingehöre; einige würden sicherlich zwischen alle Stühle fallen, das sei bedauerlich, aber im Interesse der grundsätzlichen Klärung nicht zu ändern? Was sollen wir nun hierzu sagen? Es bleibt nur noch das eine, allerdings grundlegende Argument, daß die Hilfesysteme für die Menschen da sind und nicht die Menschen für die Hilfesysteme. Es kommen eben einfach Scharen von seelisch Leidenden mit ihren "Störungen mit Krankheitswert" in die Beratungsstellen! Sie haben sich entschieden, hierher zu kommen und nicht in eine niedergelassene Praxis, weil sie augenscheinlich einer Medikalisierung ihres Erlebens nicht stattgeben wollen, sie fühlen sich nicht "krank". Gleichwohl wäre es von seiten der Fachkräfte unverantwortlich, sie nicht implizit als solche anzusprechen. So wie ein Amtsarzt lege artis handeln und approbiert sein muß, wenn er einen Antragsteller, ob krank oder nicht, untersucht - ohne übrigens daß eine Kasse dies erstattete -, so hat auch der Ratsuchende in einer Ehe- und Partnerschafts, - Erziehungs- und Lebensberatungsstelle einen Anspruch darauf, fachgerecht betreut zu werden. Die Beratungsstellen bieten einen Zugang ohne vorherige Selektion; es kommt natürlich niemand mit dem Attest "psychisch krank" dorthin, es wird auch niemandem ein solches Attest ausgestellt. Das Gesundheitssystem wird so gerade davor bewahrt, noch mehr als ohnehin schon mit Menschen überflutet zu werden, die ihre Einsamkeit, ihre Traumata, ihre Partnerschaftskrisen zu "Krankheiten" zurechtstilisieren müssen, um endlich Hilfe zu bekommen. Menschen, die nach mehreren Anläufen "austherapiert" sind, werden in Beratungsstellen gleichwohl professionell "gehalten". Ohne die entsprechenden diagnostischen Kompetenzen ihrer Psychotherapeut/innen wären die Teams in den Beratungsstellen gar nicht in der Lage, gegebenenfalls auch jemanden auf die Notwendigkeit einer gründlicheren Therapie - nun wirklich im Kontext des Gesundheitswesens - hinzuweisen. Gegenüber Psychotherapie im Gesundheitswesen haben Psychotherapie in der Kinder- und Jugendhilfe und Psychotherapie in der kirchlichen Seelsorge schließlich den unschätzbaren Vorteil des "erweiterten Indikationshorizonts". Wer Psychotherapie braucht, braucht in sehr vielen Fällen zusätzlich noch mehr als Psychotherapie. Deshalb ist Psychotherapie im Kontext institutioneller Beratung, wie eingangs formuliert, eine "Sozialleistung eigener Art". Sie ist eng verwoben mit pädagogischen, musischen, sozialen und religiösen Kontexten. Und sie wird sich künftig insbesondere ethnischen und fremdreligiösen Besonderheiten noch viel mehr widmen müssen, als dies bisher der Fall ist

Sicherlich ist es immer schwer, Plätze an den Randzonen etablierter Systeme zu sichern und zu pflegen, aber gerade diese Räume werden bei zunehmender Institutionalisierung der Gesellschaft zunehmend gebraucht, sie sind nämlich die außerordentlich wichtigen Brücken, die es den Menschen erlauben, sich auch und gerade im Ernstfall einmal auf ein anderes Ufer zu begeben.


Literatur:

Picht, G. (19822), Kunst und Mythos, Stuttgart.

Schubert, H. v. et al. (1998), Von der Seele reden, Neukirchen.

Themenheft "Kultur und Kulturkritik" IZPh 1994/2.

Wiesner, R. et al. (1995), SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, München