Wolfgang Schrödter, Frankfurt a. M.

Standort und Perspektiven

Psychologische Beratung: Gesellschaftlicher Auftrag und institutioneller Rahmen

Ich möchte Anmerkungen über Beratung in den Mittelpunkt stellen, die Selbstverständliches und Vertrautes in Erinnerung rufen sollen. Wir machen und reflektieren als Berater und Beraterinnen im Verlaufe unseres Berufslebens eine Fülle von Erfahrungen, denen wir im unmittelbaren Gespräch mit Ratsuchenden intuitiv jederzeit vertrauen, die uns als Richtschnur für Deutung, Konfrontation oder Klärung dienen. Merkwürdigerweise kommen genau dann Irritation und Zweifel ins Spiel, wenn solche Gewißheiten in externen Kontexten "befragt" werden, zum Beispiel in kirchlichen Gremien, berufspolitischen Fachverbänden oder im Gespräch mit Richtlinien- und Geldgebern. Tritt dann auch noch die mächtige empirische Wissenschaft auf den Plan und fragt nach der Güte der "Ergebnisse" unserer Bemühungen, vielleicht im Bund mit Finanzexperten und der ihnen eigenen Frage nach dem Verhältnis von Kosten und Nutzen, ist die Verunsicherung perfekt.

Was wir aus den teilweise aufgeregten, stets spannenden und zumeist ertragreichen Debatten der letzten Jahre lernen können, lautet: Die Existenz des Angebots "institutionelle Beratung" hängt nicht von errechneter Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit oder Marktgängigkeit ab, sondern von politischen und kirchenpolitischen Wertentscheidungen. Neben allem, was man inhaltlich dazu sagen könnte, steht fest, daß um solche Entscheidungen in Permanenz und ohne absehbares Ende gerungen werden muß. Das Forum dieses Ringens ist nicht der Markt, sondern ein soziales Gefüge nach Art eines Parlaments. Konkret mögen das Synoden oder kleinere lokale Gremien, Ausbildungsinstitute oder Fachverbände sein. Am überzeugendsten "wirken" dabei lebendige Berichte über unsere Ratsuchenden, ihre Anliegen und unsere Gespräche mit ihnen. Das gilt jedenfalls dann, wenn unsere Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen ein offenes Ohr für Lebensthemen sowie ein waches Engagement in Fragen sozialer Gerechtigkeit mitbringen.

Ich konzentriere mich bei meinen Überlegungen im folgenden auf das Handlungsfeld "institutionelle Beratung", wie es für die Erziehungs-, Familien-, Partnerschafts-, Ehe- und Lebensberatung seit Jahrzehnten etabliert ist. Ein bewährtes Modell für die Organisation von Beratungsarbeit stellt die "Staatlich anerkannte Erziehungsberatungsstelle" dar. Für sie existieren Richtlinien der Bundesländer hinsichtlich Aufgabenbeschreibung, Qualifikationsanforderungen, das multidisziplinäre Team sowie Förderungsvereinbarungen. Schließlich finden sich hier auch die Basisvoraussetzungen von Beratungsarbeit festgeschrieben, also Freiwilligkeit, Kostenlosigkeit und Verschwiegenheit. Die einschlägigen kirchlichen Richtlinien argumentieren grundsätzlich in ähnliche Richtung. Das vor kurzem erschienene Monumentalwerk "Handbuch der Erziehungsberatung Band 1" (Körner/Hörmann, 1998) dokumentiert ausführlich und differenziert das breite Spektrum von Aufgaben und Leistungen in diesem Bereich.

Die spezifische soziale Organisation der Praxis scheint mir für Beratungsarbeit konstitutiv, weshalb wir Beratung kürzlich als "sozialen Fall" untersucht haben (Vergl. Schrödter 1999, v. Schubert et al. 1998). Zu ihm gehört idealiter die Kooperation unterschiedlicher Disziplinen in autonomer Verantwortung. Beratung verkörpert einen geradezu exemplarischen Fall interdisziplinären Handelns und Nachdenkens. Die professionelle Kompetenz von Beratern und Beraterinnen ist aufs engste damit verknüpft. Andere Fragen, etwa nach hilfreicher inhaltlicher Theorie, sinnvoller Qualifikation, geeigneter Grundberufe und Zusatzausbildungen, sollen an die zweite Stelle rücken. Der alte und wieder neue Streit um die relative Nähe oder Distanz zur Psychotherapie, zum Gesundheitswesen1, aber auch zu anderen Formen professionalisierter sozialer Arbeit, könnte vielleicht auf diese Weise dorthin plaziert werden, wo er hingehört: auf die Ebene wichtiger, aber nachrangiger Fragen. An der einen oder anderen Stelle werde ich darauf zurückkommen, indem ich mich mit notorischen Kritikern der Beratungsarbeit auseinandersetze. Am Ende meines Beitrags möchte ich dann ein ebenfalls nicht wenig konfliktträchtiges Thema aufgreifen, nämlich mögliche Zusammenhänge von Beratung und gesellschaftlicher Entwicklung.

1) Beratungspraxis und ihre Aufgaben

Überlegungen zur Begründung des Handlungsbereichs Beratung sollten sinnvollerweise aus der Perspektive der Anliegen von Klientinnen und Klienten beginnen. Zunächst zur quantitativen Seite. Die Zahl der Anmeldungen in Beratungsstellen ist im Verlauf von mehr als zwei Jahrzehnten, die ich aus eigener beruflicher Praxis überblicken kann, ständig gestiegen. Offensichtlich sind Bezeichnungen wie Erziehungs-, Ehe-, Lebensberatung, Suchtkranken- oder Familienberatung trotz oder gerade wegen ihrer relativen Offenheit gut geeignet, eine breite und vielschichtige Klientel anzusprechen. Einige Zahlen2: In die Beratungsstellen der Kirchen kommen jährlich etwa 200.000 Menschen und nehmen ungefähr eine Million Gespräche wahr. In diesen Daten sind Einrichtungen der Städte und Kreise, der Hochschulen sowie anderer freier Träger (AWO, Pro Familia, Vereine, Gesundheitszentren, etc.) noch nicht enthalten. Tätigkeiten unter der Sammelüberschrift "Beratung" haben sich zu einem bedeutenden Bestandteil in der psychosozialen Versorgung entwickelt. Dem kontrastiert augenfällig die schwankende, manchmal geringschätzige wissenschaftliche, berufspolitische und allgemein-öffentliche Beachtung dieses Bereichs sowie der relativ heterogene Grad an fachlicher Organisation.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Klärungsbedarf bleibt in sozusagen "qualitativer" Hinsicht gegeben. Zum Beispiel hinsichtlich folgender Fragen: Wer kommt mit welchen Anliegen in eine Beratungsstelle, zumal eine kirchliche? Welche Menschen wenden sich mit welchen Anliegen und Fragen, in welchen Krisen- und Konfliktsituationen ihres Lebens und mit welcher Art Leiden an eine Ehe- und Lebensberatungsstelle oder an eine Familienberatungsstelle? - Es wäre eine eigene empirische Untersuchung wert, einmal systematisch die Texte genauer anzuschauen, wie sie bei der in der Regel telefonischen Erstanmeldung festgehalten werden.

Um sogleich einem häufig an dieser Stelle geäußerten Einwand von Kritikerseite zu begegnen: Wir dürfen aus gesicherter Erfahrung annehmen, daß es kein blinder Zufall ist, wer sich in einer schwierigen Lebenssituation an eine solche Einrichtung wendet. Ratsuchende wählen sehr wohl aus, wo sie mit wem über was sprechen möchten und welchen institutionellen Rahmen sie dabei für vertrauenswürdig halten. Auch sogenannte "Überweisungen" durch Ämter, Schulen, Kindergärten, Kliniken oder andere Institutionen und Personen ändern nichts daran, daß Ratsuchende jeweils ihre Vorentscheidungen treffen. Manchmal vergehen zwischen dem ersten Gedanken an oder ersten Hinweisen auf Beratung Monate, gelegentlich Jahre. Der gewählte Zeitpunkt bleibt stets ein individueller sinnhafter Entschluß. Deshalb ist im Gespräch die "warum gerade jetzt?"-Frage so bedeutsam.

Überlegungen zur Klientel und damit zu den Aufgaben, die Beratung wahrzunehmen hat, müssen schematisieren. In meinem näheren lokalen Arbeitsumfeld unterscheidet sich die durchschnittliche Klientel einer ländlich verorteten Einrichtung von der unsrigen in Frankfurt. Hinzu kommen die unterschiedlichen Möglichkeiten verschiedener Träger. Wir verfügen bei uns im Rahmen eines vergleichsweise großen Trägers über Spezialisierungen auf heilpädagogische Frühförderung behinderter Kinder, sozialpädagogische Familienhilfe und Suchtkrankenberatung in eigenen Einrichtungen. Anderenorts nimmt die Erziehungsberatungsstelle einige dieser Aufgaben integriert wahr. Dabei spielen auch Umfang und Struktur des lokalen Angebots eine Rolle. Ungeachtet solcher Detail-fragen gibt es einige Gemeinsamkeiten, so daß es berechtigt erscheint, von einer charakteristischen Klientel einer Beratungsstelle zu sprechen3.

Sehr allgemein ausgedrückt kann man aus der Erfahrung sagen, daß es sich um eine höchst vielschichtige Klientel handelt was Problemlagen, Alter, soziale Schichtung und soziokulturelle Herkunft anbelangt. Zur Vielschichtigkeit gehören auch die "Settings", Ratsuchende melden sich zu Einzelgesprächen, als Paar, als sogenannte Teilfamilie oder als ganze Familie an; sie suchen Einzel- oder Gruppengespräche oder eine Spieltherapie für ihr Kind. Auch hier gilt: Wenn man genau hinhört - was allerdings eine spezifische Aufmerksamkeitsfokussierung unsererseits voraussetzt -, zeigt sich, daß Ratsuchende eingehende Überlegungen angestellt haben, bevor sie sich an uns wenden. So kommen Entscheidungen zustande, die wir in unserer Fachsprache als Settingfestlegungen bezeichnen würden. Die Selbstkonzepte, die Ratsuchende sich anfertigen, bevor sie uns aufsuchen, spielen für den Beratungsprozeß eine zentrale Rolle; zumal in ihnen in aller Regel auch Perspektiven auf potentielle Lösungsmöglichkeiten enthalten sind. Kurz: Beratung wird nicht an, sondern mit Menschen in einem offenen dialogischen Prozeß praktiziert. Dieser Prozeß beginnt, bevor Ratsuchende mit einer bestimmten Einrichtung und Person Kontakt aufnehmen; er läßt sich nicht beschleunigen, lenken oder sonstwie von außen dirigieren.

Wenn man aus der Klientel einer Beratungsstelle heraus "Gruppen" unterscheiden und beschreiben will, so ließe sich schematisierend sagen:

I) Klientinnen und Klienten suchen Beratungsgespräche zumeist in einer zugespitzten aktuellen Krisensituation ihres Lebens, in der ihre eingespielten und bis dato bewährten Konfliktbewältigungsmuster versagen oder zu versagen drohen. Unsicherheit, Niedergeschlagenheit, Angst, insbesondere Zukunftsangst und Selbstzweifel prägen das Erleben, andere Schwierigkeiten können dazu kommen, im partnerschaftlichen Bereich, der Beziehung zu den Kindern oder am Arbeitsplatz. Manchmal sucht sich das Leiden auch vorwiegend körperliche Ausdrucksformen. Der Schritt in die Beratungsstelle zeigt, daß die Situation dennoch als bewältigbar empfunden wird, sei diese Hoffnung vielleicht auch noch so vage, und, daß dazu ein Schritt in Richtung "professionelle Hilfe" als sinnvoll erachtet wird. Ihm gehen in der Regel viele Suchbewegungen voraus, Gespräche im Freundeskreis, mit Angehörigen oder Kollegen, mit vertrauten Menschen aus dem Kreis der - im weitesten Sinne - helfenden Berufe; das kann bei Schwierigkeiten mit einem Kind die Kindergärtnerin sein, bei Partnerschaftskonflikten die Hausärztin oder der Pfarrer, bei Problemen im Jugendalter die Lehrerin. Wir dürfen davon ausgehen, daß ein großer Teil psychosozialer Konflikte in diesem Umfeld eine konstruktive Lösung findet. Der Entschluß, Beratung aufzusuchen, bedeutet einen eigenständigen, neuen Schritt.

Wir unterscheiden qua Konzept in diesem Zusammenhang die Schwellensituationen von den besonderen Lebensereignissen. Schwellensituationen durchleben alle. Der Eintritt eines Kindes in die Schule, die Adoleszenz, Berufsfindung, Partnerschaft, eigene Elternschaft, die mittleren Lebensjahre oder das Ausscheiden aus dem Berufsleben markieren Schwellensituationen im Lebenszyklus mit je spezifischen psychosozialen und kognitiven Anforderungen. Zu diesen vergleichsweise leicht identifizierbaren Übergangsstadien kommen die eher verborgenen, zum Beispiel Phasen ungleichzeitiger Entwicklungschancen für Frau und Mann in der Paarbeziehung; ein in der Eheberatung häufiges Thema. Die mit Schwellensituationen einhergehenden Schwierigkeiten sind in gewissem Umfang vorhersehbar (und man würde sich eine bessere Vorbereitung auf sie wünschen). Aus besonderen, zum Beispiel biographischen Gründen oder durch eine zufällige Verkettung von Belastungen, kann jeder Mensch in solchen Situationen in eine Krise geraten, deren psychische, partnerschaftliche und familiale Folgen nicht mehr handhabbar erscheinen.

Besondere Lebensereignisse repräsentieren Trennung und Scheidung, ein Schwangerschaftsabbruch, die Geburt eines behinderten Kindes, ein plötzliches traumatisches Verlusterlebnis, die Mitteilung einer schweren Krankheitsdiagnose, der Sterbeprozeß eines nahen Angehörigen, ein beruflicher Abstieg, größere regionale Umorientierung, ein Autounfall, ein erlebter Wohnungseinbruch oder ein Überfall auf der Straße. Letzteres sind zwei Beispiele aus meiner jüngeren Frankfurter Erfahrung: Es mehren sich Gespräche mit Klientinnen und Klienten nach solcherart Unglückserfahrungen; wir haben dadurch gelernt, daß ein selbst oder in der Nachbarschaft erlebter Wohnungseinbruch für manche Menschen traumatische Bedeutung erlangt und langwierige psychische und körperliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen kann; zum Beispiel andauernde diffuse Angstzustände, Schlafstörungen, eine permanente Mißtrauenshaltung gegenüber sich selbst und der Mitwelt.

Innerhalb der zwei soeben benutzten Kategorien existiert Bewegung: Ob wir in Zukunft Trennung und Scheidung als ein besonderes Lebensereignis oder eine typische Schwellensituation konzeptualisieren, dürfte angesichts der Entwicklung der Scheidungszahlen offen sein.

In Schwellensituationen oder nach besonderen Lebensereignissen können die bis dato eingespielten und erfolgreichen Bewältigungsmuster, die Sicherheit und (Seins)Gewißheit verbürgenden Routinen scheitern. Sie müssen neu organisiert und den gewandelten inneren und äußeren Bedingungen angepaßt werden. Ein junges Paar erzählte mir zum Beispiel vor einigen Tagen, wie glücklich und unbeschwert ihre Beziehung früher gewesen sei; dann kam es zur Geburt des ersehnten Kindes und anschließend zu ersten Mißverständnissen, dann zu ersten Streitigkeiten, die schließlich in Handgreiflichkeiten gipfelten. Der Gedanke, sich zu trennen lag nahe, ebenso die Angst davor. Die Schwellensituation "Eltern werden", der objektiv konflikthafte Übergang von der Zweier- zur Dreiersituation, drohte zu mißlingen.

Eine gründliche Phänomenologie der aktuellen, je individuellen Krisensituation, mitsamt aller erreichbaren inneren und äußeren Umstände, gehört zum Kern beraterischer Verstehensbemühungen. Eine Krise entwickelt sich stets innerhalb einer individuellen, partnerschaftlichen oder familialen Lebenspraxis, und ihre Besonderheit verweist immer auch auf den Spielraum möglicher Lösungen. Die Bewältigung von Krisen entwickelt sich keineswegs entlang eines blinden, ziellosen oder zufälligen Herumsuchens. Die bereits probierten Selbstbewältigungsversuche der Ratsuchenden geben immer einen Hinweis darauf.

Darüber zu sprechen, erfordert die Herstellung einer vertrauensvollen und offenen Beziehung sowie geeignete Theorie, welche einen sinnverstehenden Zugang zu Lebenspraxis und Lebenskonflikten eröffnet - oder, wenigstens, nicht verstellt. Sie liegt nicht fertig bereit, sondern muß entwickelt werden. Praxis und Theorie verkörpern im Feld psychosozialer Arbeit eine prinzipiell widersprüchliche Einheit, weder ist das Handeln aus einer Theorie ableitbar, noch bildet eine Theorie auch nur annähernd die Praxis ab. Unstreitig dürfte sein, daß die Art und Weise der Vermittlung theoretischer und praktischer Kompetenzen eine entscheidende Voraussetzung hilfreicher beraterischer Praxis darstellt. Dazu gehört ein möglichst undogmatisches Lernen möglichst vieler Modelle und Konzepte, eine anhaltende Neugier für Neues, was in sozialwissenschaftlichen und therapeutischen Ausbildungen keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt. Konsens ist weiterhin, daß Beratungspraxis die Bereitschaft zu einem lebenslangen Lernprozeß erfordert. Aus gutem Grund wird die Gestaltung von Gesprächen dieser Art als besondere "Kunstform", als besondere Form von Urteilsbildung (Welter-Enderlin/Hildenbrand, 1996, 56), bezeichnet, die etwas anderes ist als ein routinisiertes und nach formalen Regeln beliebig wiederholbares berufliches Handeln. Beraterische Kompetenz "hat" man nicht, man muß sich vielmehr tagtäglich nach bestem Wissen und Gewissen um sie bemühen. Manchmal bedeutet schon die schöpferische Findung einer sinnvollen neuen Frage, eines kreativen Bildes oder eines anderen Blickwinkels einen bedeutsamen Schritt in Richtung konstruktiven Wandels.

II) Nicht wenige Klienten und Klientinnen einer Beratungsstelle leiden unter Mehrfachproblemen. Zur drohenden oder eingetretenen Arbeitslosigkeit kommen mehr oder minder ausgeprägte Beziehungsprobleme, die Kinder lernen in der Schule mühsam und zu allem Überfluß drücken hohe Schulden; ein fortgeschrittener Alkoholmißbrauch führt dann vielleicht zu einer massiven Eifersuchtsproblematik und zerstört die Tragfähigkeit der wichtigen nahen Bindungen und Beziehungen. Soziale Desintegration, Isolation und in der Folge Resignation drohen. Fast immer zeigt eine sorgfältige Betrachtung der Lebensgeschichte eines Kindes in der Erziehungsberatung eine Verkettung von unglücklichen Ereignissen und Umständen, die erst in ihrer jeweiligen Verknüpfung dramatisch werden.

Einige Klientinnen und Klienten sammeln eine Vielzahl von Helfern und Helferinnen unterschiedlichster Profession um sich, die teils ohne Wissen voneinander handeln. Bei solcherart institutionalisiertem Leiden bzw. Form von verwalteter Biographie ist die Gefahr, daß sowohl die Helfer und Helferinnen als auch die Betroffenen sich heillos verstricken und schließlich resignieren, nicht gering; ebenso ausgeprägt ist im übrigen die Gefahr, daß die Helferschaft untereinander in uferlosen Streit und Rivalität gerät. Auf diese Weise chronifiziert sich manchmal eine Problemkonstellation. Kooperation über die Grenzen unserer Institution hinaus ist gefordert.

III) Wenn man über die durchschnittliche Klientel einer Beratungsstelle und damit über die konkreten Aufgaben in der Beratungsarbeit spricht, kommen weitere Überlegungen ins Spiel: In den seltensten Fällen entsprechen die Konflikte und Schwierigkeiten unserer Ratsuchenden dem gesammelten klinischen oder sozialpädagogischen Lehrbuchwissen. Ich formuliere jetzt vorsätzlich polemisch: Der Lehrbuchfall eines Klienten mit einer diagnostisch klar umrissenen Störung, der zudem geduldig ist, sozial bestens integriert, zahlungskräftig, bereit zu einer mehrjährigen Therapie, dieser Lehrbuchfall dürfte in Beratungsstellen selten anzutreffen sein. Wie immer verläuft das wirkliche Leben weitaus komplexer als uns das in Fachbüchern angesammelte Wissen vorgibt. Manche unserer Ratsuchenden begegnen uns am Anfang skeptisch und mißtrauisch, hoffen aber auf rasche Lösungen und zuweilen fällt es nicht leicht, mit ihnen ein stabiles, tragfähiges Arbeitsbündnis herzustellen. Manchmal handelt es sich um Menschen, die von privaten therapeutischen Praxen zur Beratungsstelle geschickt werden, weil sie aus irgendwelchen Gründen nicht ins dortige Indikationsraster zu passen scheinen oder vielleicht die vereinbarten Stunden nicht regelmäßig einhielten. Es kommt vor, daß man ihnen Urteile nach dem Muster "nicht ausreichend motiviert" mitgab.

Den meisten Ratsuchenden ist es allerdings gemeinsam, daß sie sich nicht "als krank" im eingebürgerten Sinne der Bedeutung des Wortes sehen und von daher kein Hilfsangebot unter der Bezeichnung "Psychotherapie" aufsuchen. Sie suchen keine Behandlung. Sie wünschen und erwarten Klärung, Orientierung und Entscheidungsfindung in einem überschaubaren und zeitlich wie thematisch begrenzten Gesprächsprozeß. Sie vermuten bei uns, im Kontext einer evangelischen Einrichtung, die (wie auch immer wirksam) bleibende Präsens von Werten und Visionen. Rein logisch und systematisch wäre es auch ziemlich fragwürdig, Beziehungskonflikte eines Paares nach den eingespielten Kriterien in individualisierende Krankheitskonzepte pressen zu wollen. Als ähnlich irreführend erweisen sich Hilfskonstruktionen nach dem Muster "irgendwo zwischen gesund und krank angesiedelt", mit denen man die besondere Klientel der Beratungsstelle gelegentlich beschrieben findet; flankierend kommt häufig noch der schillernde "schwer-leicht-gestört-Schematismus" dazu. De facto will man mit solchen Versuchen lediglich die krank-gesund-Differenz durchhalten4.

Wahrscheinlich erweisen sich Duale wie "glücklich/unglücklich", "erwünscht/unerwünscht" oder "erfüllt/unerfüllt" als geeigneter zur Fundierung unserer Suchbewegungen; weil sie im wesentlichen auch die Leitkategorien unserer Ratsuchenden sind. Es ist unschwer zu sehen, daß solche Duale eher aus Lebensphilosophie, Theologie oder Pädagogik stammen denn aus klinischer Theorie.

Im übrigen gibt es, und dieser Punkt ist vielleicht wichtiger, keinen linear-kausalen Zusammenhang zwischen einem empfundenen Leiden und seiner (subjektiven) Konzeptualisierung "als krank"; das gilt schon für die Organmedizin und erst recht für psychosoziale Phänomene. Versuche, körperliche und seelische Vorgänge oder Erlebnisse in einer Partnerschaft semantisch "als etwas" zu bezeichnen, sind ein bewegliches Resultat vielschichtiger, zuweilen langwieriger, sich selbst tragender Suchbewegungen - in systemsoziologischer Sprache können wir sie als selbstreferentielle Prozesse bezeichnen, die einer eigenen, inneren Logik folgen. Wie oben schon gesagt: Solche Suche führt einige Ratsuchende zur Gemeindepfarrerin, andere in die Eheberatungsstelle und wieder andere zum Hausarzt, manchmal werden mehrere Stationen aufgesucht. Entscheidend scheint mir, und ich greife noch einmal einen Ausschnitt aus der aktuellen Diskussion auf: Es gibt keinen vernünftigen Grund, an ihrer jeweiligen Wahl "expertisch" herumzukritisieren. Gelegentlich lesen wir in der Fachliteratur, die Wege der Ratsuchenden seien durch Fachleute gezielt zu "beschleunigen", sogenannte "Fehlbehandlungen" zu vermeiden, es gelte rasch "die (einzig) richtige Methode" zu finden usw., so als seien Klienten und Klientinnen quasi steuerbare (Reaktions-) Automaten bzw. triviale Maschinen. Gegen alle Erfahrungen behaupten solche Vorstellungsmuster ihren Raum5. Dabei zeigt die quantitativ-experimentelle Therapieforschung, daß die Wirksamkeit einer Methode eng zusammen hängt mit dem Grad an Autonomie ihrer Wahl! - merkwürdigerweise wird diese Erkenntnis selten zitiert.

Innerhalb der skizzierten Suchbewegungen von Ratsuchenden kommen natürlich auch zeittypische soziale Konditionierungen zum Tragen. Was in den fünfziger Jahren bei einem Kind als "ungezogen" galt, mag heute als "krank" und morgen wieder anders wahrgenommen werden, was man noch vor vier Jahrzehnten als Schicksal deutete, mag mancher Zeitgenosse heute als Folge einer falschen, aber revidierbaren Entscheidung sehen. Ob darin irgendein Gewinn liegt, müssen wir jeweils im Einzelfall genau untersuchen. Vor allzu naivem Fortschrittsoptimismus sollten wir uns hüten.

2) Was braucht Beratung?

Eine legitime, gerade gegenwärtig aktuelle und deshalb mutig zu stellende Frage lautet: Was brauchen wir für uns und unsere Arbeit? Beratungsstellen verfügen idealiter über einen relativen institutionellen Freiraum mitsamt den Sicherheiten, die Berater und Beraterinnen für ihr Tun benötigen. Die Fähigkeit zur Gestaltung von Beratungsgesprächen soll ja über ein Berufsleben hinweg erhalten bleiben, was eine außerordentlich anspruchsvolle Aufgabe bedeutet6. Zum Freiraum gehört, daß Ratsuchende keinen Krankenschein vorlegen und nicht für externe Zwecke diagnostisch und indikatorisch begutachtet werden müssen. Der unbürokratische freiwillige Zugang, die Kostenlosigkeit und Verschwiegenheit gehören zu den unverzichtbaren Voraussetzungen der Praxis. Settings sind variabel und offen, auch was die Frequenz der Sitzungen und die Stundenzahl anbelangt. Wir wissen aus allen Statistiken, daß "Einmalgespräche" häufig vorkommen bzw. vier bis fünf Stunden einen Schwerpunkt in der Praxis bilden7 und wir wissen ebenso, daß manche Ratsuchende in späteren Konfliktsituationen erneut zu uns kommen. Dies entspricht der Idee einer Lebensbegleitung, wie sie der Gemeindearbeit verwandt ist. Zugespitzt formuliert: Die Beratungsstelle soll idealiter einen Freiraum bereitstellen, in dem auch sozusagen experimentell Erfahrungen mit professionell gestalteten helfenden Gesprächen gemacht werden können; sie soll einen geschützten Raum zur Verfügung stellen, in dem Wachstums- und Reifungsmöglichkeiten gesucht, Entscheidungs- und Handlungsalternativen in Gedanken kritisch durchprobiert werden können. Die Eröffnung neuer, ein Mehr an verantworteter Freiheit erlaubender Möglichkeitsräume markiert ein bleibendes Ziel unserer Bemühungen.

Mit dem kirchlichen Leitsatz, der gleichzeitig die Überschrift zu dem als "Sozialwort" bekannt gewordenen Text der beiden großen Kirchen darstellt: Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, sind Form, Inhalt und Vision beraterischer Bemühungen vorzüglich ausgedrückt. Gleichzeitig findet sich die genuin gesellschaftliche Leistung von Beratung beschrieben, das, was über den "Einzelfall"(oder die Summe von Einzelfällen) und das Momentane oder Aktuelle hinausreicht. Natürlich berühren wir hier auch das nicht Zähl- und Meßbare beraterischen Wirkens bzw., positiv formuliert, die zentrale Leitkategorie unseres Handelns: eine Idee "richtigen Lebens", von der beispielsweise Adorno in der Tradition der Kritischen Theorie spricht. Wem das zu apodiktisch - und verdächtig doktrinär - klingt, kann ebenfalls beim Sozialwort der Kirchen fündig werden. Hier ist die Rede von Solidarität und Gerechtigkeit als einer "regulativen Idee". Von dieser, sozusagen "schwächsten" aller möglichen Positionsmarkierungen wird sich niemand verabschieden können. Weil sonst kein soziales Leben funktionieren würde, und auf ein solches bleibt auch der Skeptiker oder Kritiker, ja sogar der eingefleischte postmoderne Individualist, angewiesen.

Im direkten Anschluß daran zur Praxis, in der sich die beschriebenen Leitkategorien in einem besonderen Beziehungsangebot idealtypisch verwirklichen: Schon die räumlich-zeitliche Distanzierung vom alltäglichen Situati-ons- und Handlungsdruck, die soziale Distanzierung von Ordnungen, Normierungen und Bewertungen, von vermeintlichen oder realen Konsequenzen, wie sie mit dem Schritt in die Beratungsstelle und ins hier angebotene Gespräch gegeben ist, kann hilfreich wirken. Statt hektischen, angst- und vermeidungsmotivierten Handelns, ist erst einmal geduldiges Anschauen und Reflektieren in der und mittels der beraterischen Beziehung angesagt. Solcherart Anschauen hat (wie jede Reflexion) stets etwas Nachträgliches und Vorausgreifendes, es aktualisiert Erlebtes und eröffnet den Blick auf Mögliches. Unser in letzter Zeit gelegentlich heftig kritisiertes Setting dient der möglichst optimalen Herstellung der Bedingungen zu wirklich neuer Erfahrung und Erkenntnis. Daß etwas anderes möglich ist als das unmittelbar Gegebene, soll spür- und begreifbar werden. Natürlich kommt es dann auf den gelingenden Transfer von neuen Erfahrungen und Einsichten ins Alltagsleben an. Wir wissen aus der Praxis, wie ein kleines Stück gelungener Problembewältigung sich auf weitere, andere Erlebens- und Lebensbereiche wohltuend auswirken kann. Ein Kind, das kaum noch einnäßt oder mit weniger Angst morgens zur Schule geht, sorgt von selbst für eine Entlastung seiner Eltern. Es kommt sehr darauf an, ob und wie es gelingt, einen sich allmählich selbst tragenden Lernprozeß zu initiieren.

In diesem Sinne nimmt Beratung auch, wenn nicht sogar in erster Linie, präventive soziale Aufgaben wahr. Und das keineswegs nur qua Konzept, sondern durchaus im Sinne der Erwartungen vieler Klientinnen und Klienten. Sie suchen Beratung, weil sie spüren, daß Gefährdungen eines Tages massiv werden könnten, zum Beispiel, daß der zur Gewohnheit gewordene Alkoholgenuß in eine schwere Abhängigkeit führen, oder Streitigkeiten in uferloser Wut enden könnten; Ratsuchende sehen, wenn in einer Trennungs- und Scheidungssituation die Destruktivität ihrer Auseinandersetzungen so zunimmt, daß die angestrebte gemeinsame Verantwortung für die Kinder nicht mehr konstruktiv wahrgenommen werden kann; Partner und Partnerinnen spüren, wie ihre Eifersucht (selbst)zerstörerische Formen annimmt; viele Ratsuchende sehen deutlich, daß sie ihr Lebensglück nicht einfach dadurch finden, daß sie aus einer Beziehung hektisch in die nächste flüchten. Es liegt durchaus im Bereich der Alltagskompetenz von Menschen, Gefährdungen und ihre möglichen Folgen für die Zukunft wahrzunehmen und vorbeugend zu handeln. Beratung ist eine unter mehreren Möglichkeiten. Zu den Merk- und Denkwürdigkeiten unseres Gesundheitswesens zählt, daß eine gelegentliche Niedergeschlagenheit erst den "Wert einer Depression" annehmen oder ein gelegentlich überhand nehmender Gebrauch von Beruhigungsmitteln zur "Sucht" reifen müssen, damit Therapie kassenfinanziert angezeigt ist; erst die zur "Arbeitsunfähigkeit" gewordene zeitweise Arbeitsstörung löst den Anspruch auf Behandlung aus. Ämter gewähren dann Hilfen zur Erziehung, wenn gravierende Probleme bereits aktenkundig geworden sind. Prävention bekommt angesichts solcher Schematisierungen keine Grundlage. Das bedeutet offensichtlich eine Chance und Notwendigkeit für institutionelle Beratungsarbeit.

Um es zu unterstreichen: Voraussetzung zum Gelingen solcherart spezifisch beraterischer Intentionen bleibt ein relativer Autonomieraum der Beratungsstelle, auch gegenüber der Denk- und Handlungslogik administrativer Systeme, etwa der Jugend- und Familienhilfe. An dieser Stelle streifen wir ein Thema, das auch und gerade unseren Träger interessieren müßte: Den denkbar schlechtesten Fall würde eine staatlich durchreglementierte kirchliche Beratungspraxis darstellen. Weder Staat noch Kirche würde das dienen, soweit letztere nur als permanente Differenz zu Staat und Gesellschaft, zum herrschenden Zeitgeist überhaupt, interessant bleibt. Differenz bedeutet natürlich nicht Isolation, soweit der Begriff stets wechselseitige Bezogenheit impliziert. Das wäre allerdings ein eigenes Thema: Was es für uns und unsere sozialen Umwelt(en) bedeuten könnte, wenn wir in der Kirche kurzlebiges modisches Vokabular und Denken blank kopieren. Eine hinreichende Distanz sollte für Beratung allerdings auch gegenüber den offiziellen Formen von Theoriebildung und akademischer Wissenschaftlichkeit gegeben sein. "Gelingende Fallarbeit" steht und fällt mit einem möglichst respektlosen Umgang mit herrschendem Wissen, sie benutzt das Potential kritischer Freiheit als die zentrale Errungenschaft aufklärerischer Wissenschaft (Gadamer 1993, 155), und, wie wir vielleicht hinzufügen dürfen, gut protestantischer Tradition8.

Darüber hinaus stellen sich in diesem Zusammenhang inhaltlich viele Forschungsaufgaben: Wir wissen wenig darüber, wie Menschen in ihrem Alltag mit Schwierigkeiten und Konflikten autonom bewältigend umgehen, weil Forschung in der Regel auf mißlingende und entgleisende Prozesse fixiert ist; üblicherweise liegt der Schwerpunkt eingleisig auf "Defekt"forschung. Eine Folge verkörpert die Flut von Literatur zu "pathologischen Ehe-/Familienbeziehungen" im Kontrast zu den wenigen Studien über Muster und Modelle gelingender und glücklicher Lebens-prozesse9. Zugegeben, auch wir sind in dieser Hinsicht professionell etwas betriebsblind.

Kommen wir auf einige unserer Kritiker zu sprechen. Kritiker legen die Freizügigkeit und Offenheit des Angebots Beratung manchmal als Unverbindlichkeit oder Oberflächlichkeit aus. Auch von "Wildwuchs" in der Beratungslandschaft hörten wir in letzter Zeit gelegentlich; was, selbstredend, eine Vielzahl ambitionierter Steuerer und Manager auf den Plan rief. Wer ordnen und steuern will, muß trivialerweise erst einmal eine mehr oder minder chaotische Welt konstruieren. Im krassesten Fall kreiden Kritiker der Profession der Berater und Beraterinnen mangelhaft ausgeprägte Identität an, weil sie meinen, Identität und Fachlichkeit äußere sich in standardisierten, routinemäßig wiederholbaren, stets und immer exakt am herrschenden Wissen entlang begründbaren Handlungen. In einem solchen Denkraster stören natürlich Vielfalt, Experimentierfreudigkeit und schöpferischer Einfallsreichtum10. Das Interessanteste an beraterischer und therapeutischer Arbeit, nämlich das Provisorische und Kreative, Neue und Unvertraute, Überraschende und Irritierende, findet sich folglich wegrationalisiert. In den funktionalistischen Sozialwissenschaften würde man von den "diffusen Elementen" beruflichen Handelns sprechen, und sie bedeuten traditionell den peinlichst zu meidenden Störfall. Die Autorität solcher Theorien kritisch anzugreifen ist eine lohnende Daueraufgabe, weil ihr Einfluß auf unser Selbstgefühl und unsere Gespräche mit Ratsuchenden nachhaltig bleibt. Sonst stünde am Ende die eindringlich beschriebene überraschungslose, durchorganisierte Welt, exakt also die Welt, an der viele Menschen (ver)zweifeln.

3) Gesellschaftliche Entwicklung und gesellschaftlicher Auftrag an Beratung

Anforderungen an Beratungspraxis stehen nicht statisch fest in Raum und Zeit. Der gesellschaftliche Wandel führt zu Veränderungen, die wir sorgfältig beobachten müssen. Wie alle sozialen, also sinnhaft-sprachlich strukturierten Phänomene, unterliegen Aufgaben der Beratungspraxis der Zeit - die Kategorien Sozialität, Sinn und Zeitlichkeit sind prinzipiell nicht voneinander isolierbar. Engagierte kritische Gesellschaftsbeobachtung heißt folglich eine unserer professionellen Pflichten.

Wir stoßen auch bei diesem Thema auf vielfältige Schwierigkeiten. Besonders, wenn wir versuchen, Prozesse moderner Gesellschaft aus der Perspektive der Theorie(en) über sie zu verstehen. Ein eigenes Genre der Sozialwissenschaften hat sich auf Zeitdiagnosen spezialisiert und mit erheblichem Aufwand Begriffe und Wortkombinationen erfunden. Ich greife mitten in die Diskussion: Mal sind es die mutmaßlich enormen Individualisierungs- und Freiheitschancen in fortgeschrittenen Gesellschaften, dann deren alle Klassen- und Nationalschranken sprengenden Risikopotentiale, ein anderes Mal lesen wir von einer angeblichen Tyrannei der Intimität, dem normalen Chaos im Liebesleben oder der zeittypischen Sucht nach Erlebnissen. Kürzlich handelte ein Beitrag in der Zeitschrift Diakonie (1998) über die "Tyrannei des Gemeinsinns", in dem sich ein spektakuläres Plädoyer für einen zielstrebigen Egoismus fand. Zu allem Überfluß behauptete irgendwann zuvor ein Moderneforscher, die intime Mann-Frau-Dyade habe sich sozialisatorisch überlebt und sei für die Entwicklung des Kindes strukturell verzichtbar geworden; davon hatten wir bereits von einem international renommierten Medienwissenschaftler über das "Verschwinden der Kindheit" schlechthin gehört. Irgendwo dazwischen, bunt eingemischt in den schillernden Diskurs der Postmoderne, vernehmen wir dann noch Neuestes von der mutmaßlichen Notwendigkeit, die meisten unserer Überzeugungen in kurzen Zeitintervallen revidieren, unser Leben quasi jeden Morgen neu erfinden zu müssen. Kaum Jemand, der widerstehen kann, einen Paradigmawechsel entweder zu fordern oder als bereits vollzogen zu postulieren. Für Erstaunen und Irritation in Permanenz ist gesorgt.

Am vielleicht fatalsten für unser Verständnis von Geschichte und Gegenwart wirken jene leichtfertigen früher-heute-Konstruktionen, denen zufolge wir in einer Zeit eines "radikalen Werteverlusts", einer "Aufzehrung moralischer Substanz" oder gar schon der "Abschaffung des Sozialen" leben sollen. Kaum ein Text, der es sich entgehen ließe, den angeblichen Verlust religiöser Orientierung anzuklagen. Es klingt merkwürdig, daß niemand in diesem Kontext ernsthaft die Entstehung neuer Werte, Normen und Überzeugungen und neuer Gestaltungsformen von tragfähiger Gemeinschaftlichkeit untersucht; statt dessen findet sich bloß Verlustgeschichte herbei geschrieben und nebenbei wird einer fatalen Verklärung der Vergangenheit Vorschub geleistet. Denken wir doch nur einmal einen Moment an die fünfziger Jahre, als es verpönt, tabuisiert und in manchen Gegenden nahezu pathologisiert war, wenn eine Protestantin einen Katholiken heiratete. Oder, schauen wir uns den klassischen Deutschen Heimat- und Familienfilm jener Zeit an. War das die "Zeit" eines Lebens entlang humaner Werte und problemlos lebensdienlicher Normen? Produzieren wir heute bloß Abbau, Verlust oder Chaos? Es ist von daher begrüßenswert, wenn sich die Evangelische Kirche um eine eigene, seriöse und sorgfältige Forschung bemüht, die sich dem wirklichen Leben von Menschen öffnet. Die in dem Buch "Fremde Heimat Kirche" (Engelhardt et al. 1997) abgedruckten Interviews dokumentieren sehr aufschlußreich Wege und Formen der Sinnsuche und Sinnfindung im Alltagsleben und können helfen von Pauschalurteilen, auch was die Bedeutung von Religiosität anbelangt, wegzuführen hin zu einem differenzierteren Bild.

Natürlich muß auch sozialwissenschaftliche Aufklärung, wie jedes soziale Handeln im Alltag, gelegentlich übertreiben, um sich Gehör zu verschaffen. Meine Aneinanderreihung einschlägiger Thesen und Spekulationen ist natürlich ungerecht und polemisch, weil ich weder zitiere noch vertiefe, das habe ich anderenorts am Beispiel des Postmodernediskurses und seiner diversen Verzweigungen in den Bereich therapeutischer Arbeit versucht (Vergl. Schrödter 1997). Daher zwei Anmerkungen zur Versachlichung: (a) Eine Schwierigkeit liegt darin, daß häufig unter einem einzigen Begriff das Ganze einer stets vielschichtigen und widersprüchlichen, aus der Aktualität heraus nur begrenzt verstehbaren gesellschaftlichen Entwicklung abgehandelt wird. So entstehen interessante Beobachterkommentare, die jeweils Einzelaspekte informativ beschreiben; aber häufig eben spekulativ, elitär und wenig empirisch gehaltvoll11. (b) Auch die Sozialwissenschaften handeln verständlicherweise im Gefüge eines hektischen (Angebots-) Marktes, auf dem sie erfolgreich vertreten sein wollen. Von daher erklärt sich die zuweilen populistische Sprache, die weniger auf reflektierende Lektüre, als auf Stimmungen in Talkshows und populären Wochenmagazinen schielt. Was natürlich nicht grundsätzlich schlecht sein muß, denn immerhin diskutieren auf diese Weise viele Menschen Grundfragen zeitgenössischen Lebens.

Zeitdiagnosen sind häufig eher ein Bestandteil des Problems als seiner Lösung. Von daher würde ich im Unterschied zu einigen Kollegen und Kolleginnen zurückhaltend sein, das Angebot institutioneller Beratung, seinen Sinn und seine Notwendigkeit, aus Beschreibungen von Gesellschaftstheorien herzuleiten. Ich würde die vielen Werke und Arbeiten zur Geschichte und Gegenwart neugierig, aber eben auch kritisch lesen. Vielleicht ist dazu eine Unterscheidung hilfreich: Die zwischen gesellschaftlichem Auftrag an Beratung einerseits, gesellschaftlicher Entwicklung andererseits. Der externe Auftrag an uns und unsere Einrichtungen wurzelt letztendlich im aufgeklärten Subsidiaritäts- und Sozialstaatsverständnis und artikuliert sich zum Beispiel global im neuen KJHG. Um dieses muß öffentlich gerungen und politisch gekämpft werden, was Wiesner (1998) kürzlich in einem bemerkenswerten Aufsatz über Zukunftsoptionen in der Jugendhilfe gezeigt hat. Spekulationen über den Zustand von Mensch und Gesellschaft spielen dabei keinerlei tragende Rolle. Vielmehr geben auch an dieser Stelle Leitbilder von Solidarität und Gerechtigkeit, also universelle Kategorien einer jeden menschlichen Gesellschaft, den argumentativen Rahmen ab. Ethische (Selbst)Verpflichtungen sind niemals empirisch oder aus Zeitdiagnosen heraus begründbar.

Was hat es nun mit dem gesellschaftlichen Wandel für uns auf sich? Ich würde mit aller Zurückhaltung unserer Erfahrung aus der Praxis, das heißt unserer beraterischen Urteilskraft, vertrauen und versuchen, sie mit existierenden Modellen über moderne Gesellschaft ins Gespräch zu bringen. Wenn ich zweieinhalb Jahrzehnte Beratungspraxis versuche in den Blick zu nehmen, so gehen mir widersprüchliche Gedanken durch den Kopf. Ich denke, daß sich eine Vielzahl von Fragen und Themen, Zweifeln und Konflikten von Ratsuchenden ziemlich ähnlich bleiben. Partner und Partnerin verhandeln, zuweilen quälerisch, manchmal auch lustvoll, das Thema Treue/Untreue, sie probieren im Kopf ihre Trennungsphantasien durch, Eltern beklagen mangelnde Resonanz bei ihren Kindern, welche sich ihrerseits vielleicht unruhig oder lernunwillig zeigen, mit dem Weggang der Kinder aus dem Elternhaus entsteht plötzlich eine unerträgliche Leere; Hemmung und Angst, Schuldgefühle und Scham blockieren den Umgang mit sich selbst, Partnern oder Kollegen und Kolleginnen am Arbeitsplatz, Jugendliche (und gelegentlich auch Erwachsene) zweifeln an ihrer sexuellen Orientierung oder denken, nach einer Trennung von Freundin oder Freund nicht mehr weiterleben zu können. Viele dieser Themen finden wir in Märchen, der Romanliteratur oder der Bibel beschrieben; Freuds "Kleiner Hans" bleibt auch nach Jahrzehnten noch ein Musterbeispiel für eine Erziehungsberatung, selbst wenn wir heute die Fallgeschichte an der einen oder anderen Stelle etwas anders lesen möchten als der Begründer der Psychoanalyse. Solche Themen bleiben sich über alle Geschichte hinweg ähnlich, Form, Ausdrucksweise und Sprache mögen Wandlungen unterliegen.

Das heißt: Beratungspraxis hat es zu tun mit Grundformen und Strukturen individuellen und sozialen Lebens, den typischen Fragen, Krisen und Konflikten, insbesondere an den Übergangs- und Wendepunkten in der Biographie. Beratungspraxis hat zu tun mit dem heiklen Verhältnis von vertrauten Routinen, Krise und schmerzhaftem Neuanfang, aus dem neue Routinen hervorgehen. Vorrangig thematisiert sie natürlich Formen von Angst. In jedem Beratungsgespräch geht es um ein gemeinsames Verstehen der Bedeutungsmöglichkeiten von Angst. Daneben sind Kränkbarkeit und Neid wahrscheinlich zentrale Themen für jede Beratung. Auch das gilt universell. Zu uns im Raum Frankfurt kommen, wie in anderen Ballungsgebieten natürlich auch, Ratsuchende aus uns fremden Kulturen und wir lernen, welche Bedeutung solche Phänomene jeweils in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gefügen besitzen. Das erfordert von uns spezifische Lernprozesse, reichert unser Wissen und unsere Erfahrung an, die Probleme, von denen wir hören, sind aber ähnlich.

Was "Gesellschaft" betrifft, scheint mir für uns das Tempo, die permanente Beschleunigung von Wandel, bedeutsam. Die Institutionalisierung der Krise zur Dauerkrise erleben wir in unserem Arbeitsalltag hautnah. Vielleicht weniger in unserer Begegnung mit Ratsuchenden, als im Kontakt mit unserem institutionellen und organisatorischen Umfeld. Dazu gehört die momentane Durchökonomisierung noch der letzten Winkel menschlicher Existenz. Vermutlich sind das Übergangsphänomene. Was wir als Berater und Beraterinnen dem entgegensetzen können, sind Visionen einer anderen Gesellschaft. Von daher muß Beratungsarbeit heute politischer Handeln als vor fünfundzwanzig Jahren.


Literatur:

Burkart, Günter, Kohli, Martin: Ehe, Liebe, Elternschaft. Die Zukunft der Familie. München 1992: Piper

Engelhardt, Klaus, Loewenich, Hermann von, Steinacker, Peter (Hrsg.): Fremde Heimat Kirche. Die dritte Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 1997: Gütersloher Verlagshaus

Gadamer, Hans-Georg: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt a. M. 1993: Suhrkamp

Körner Wilhelm, Hörmann Georg: Handbuch der Erziehungsberatung Band 1. Göttingen 1998: Hogrefe

Märtens, Michael: Erfahrungen und Probleme mit Methoden der Qualitätssicherung in der ambulanten Psychotherapie und Beratung. Wege zum Menschen, 50 (1998), 362-77

Schrödter, Wolfgang: Postmodernediskurs und Gesellschaft - Die Vielfalt in Beratung und Therapie. Wege zum Menschen 49(1997)

Schrödter, Wolfgang: Im Gespräch bleiben. Eine Erkundungsstudie über Beratung im Kontext. In: Hundsalz, A., Menne, K., Cremer, H.: Jahrbuch für Erziehungsberatung Band 3. Weinheim 1999: Juventa

Tyrannei des Gemeinsinns? Ein Streitgespräch mit Richard Herzinger. Diakonie Sept. 1998, 28-32

H. v. Schubert, W. Kinzinger, H. Lücke-Janssen, B. Schneider, W. Schrödter, W. Vogelmann: Von der Seele reden. Eine empirisch-qualitative Studie über psychotherapeutische Beratung in kirchlichem Auftrag. Neukirchen-Vluyn 1998: Neukirchener Verlag.

Welter-Enderlin, Rosmarie, Hildenbrand, Bruno: Systemische Therapie als Begegnung. Stuttgart 1996:Klett-Cotta

Wiesner, Reinhard: Braucht die Jugendhilfe ein Qualitätssicherungsgesetz? Wege zum Menschen 50 (1998), 329-342

Anmerkungen:

1 Das Thema taucht mit Macht nach der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes wieder auf und wird Teams sowie Träger intensiv beschäftigen. Man kann lernen: Es gibt kein Thema und kein Problem für uns, das sozusagen auf alle Zeit erledigt ist.

2 Vergl. Schneider, E., Psychologische Beratung als Auftrag der Kirchen, Wege zum Menschen, 46 (1994), 240.

3 Ich weiß, daß manche Kollegen und Kolleginnen zu diesem Punkt anders argumentieren. Sie sehen weniger Unterschiede in der Klientel einer psychologischen oder psychotherapeutischen Privatpraxis im Vergleich zu derjenigen einer Beratungsstelle. Insofern muß man vielleicht differenzieren: Bei Kinder- und Jugendlichentherapien mag dieser Gedanke richtig sein, im Fall von Elternberatungen liegen die Dinge schon anders und bei Ehe- und Lebensberatungen ergibt sich noch einmal eine andere Situation. Vieles hängt bei diesem Thema vom Setting ab – Paarberatungen gehören zum Monopol, zumal kirchlicher, Beratungsstellen – und von der konzeptionellen Sichtweise.

4 Auch in dieser Hinsicht denken Kollegen und Kolleginnen zuweilen anders. Sie meinen, die Schwierigkeiten und Konflikte von Ratsuchenden stets irgendwo im eingebürgerten, sich im übrigen ständig wandelnden, Kategorienschema psychischer und psychosomatischen Krankheiten einordnen zu können. So wird dann aus einer gelegentlichen Niedergeschlagenheit eine "reaktive Depression", aus Eifersüchteleien ein "Eifersuchtswahn". Damit eröffnen sich allerdings eine Reihe gravierender Probleme, z. B.: eine quasi Inflationierung des Krankheitsbegriffs, eine Individualisierung von Störungen im Fall der Arbeit mit Paaren, eine unterschwellige Überschätzung des "Schweregrades" der Problematik. Kurz: Weder dem Krankheitsbegriff und dem ihm eigenen Denksystem, noch dem Beratungsprozess dient eine solche Sichtweise.

5 Selbst die Erfahrung, daß ca. 50% aller psychotherapeutischen Behandlungen früh abgebrochen werden, ändert an dieser expertischen Haltung nichts. Dabei ist doch offenkundig, daß sich Beratung und Therapie nicht "verordnen" lassen.

6 Vor lauter Kundenorientierung vergißt man heute diesen Aspekt gerne. Man traut sich kaum zu fragen, was die vielerorts geforderten langen abendlichen Öffnungszeiten und Wochenenddienste der Beratungsstelle für die Familien der Berater und Beraterinnen bedeuten könnten.

7 Weshalb es so fragwürdig anmutet, wenn uns in der aktuellen Diskussion bestimmte Forscher einen Aufwand für Evaluation und Katamnese abverlangen, der in keinem Verhältnis steht zum Zeitrahmen der geführten Gespräche. Märtens (1998, 367) fragt daher sehr zu Recht nach der Legitimation von unverhältnismäßig zeit- und kostspieligen Qualitätssicherungsmaßnahmen.

8 Diesem Satz mag nur für diejenigen Beobachter Geltung zukommen, welche Protestantismus nicht gegen, sondern mit der Aufklärung verstehen wollen. Ein bekanntlich kontroverses Thema.

9 Immerhin wissen wir, daß es dieselben Mechanismen, Prozesse und Phänomene sind, die glücklich und unglücklich machen können. Nähe, eingespielte Routine und Intimität können Paarbeziehungen zufriedenstellend machen, oder auch im Stillstand ersticken lassen. Es gibt "per se" keine "pathologischen" Muster. Vielleicht ist das Grundgefühl, die eigenen Geschicke bei Bedarf und Anlaß aktiv und folgenreich in die Hand nehmen zu können, eine universelle Basis für die Bewältigung von Krisen.

10 Unsere Kritiker sollten vielleicht zur Kenntnis nehmen, daß es für viele Projekte in der Beratungsarbeit noch gar keine "bewährte Theorie" gibt. Dies gilt z. B. zur Zeit für Versuche zu einer zeitlich begrenzten Gruppenarbeit mit Kindern aus sog. Trennungs- und Scheidungsfamilien; und das galt für die Anfänge der Paarberatung. Hätten wir erst auf Theorie und Evaluation gewartet, wären solche Arbeitsweisen gar nicht in der Praxis vorhanden.

11 Ausnahmen gibt es natürlich viele. Die Arbeit vom Burkhard und Kohli (1992) gehört dazu. In ihr wird anhand ausführlicher Interviews über Ehe, Elternschaft und Familie nachgedacht. Die Ergebnisse fallen vergleichsweise unspektakulär aus.